Is Swiss Democracy Exportable?
Tages Angzeiger (Zurich, Switzerland)
Markus Somm
August 29, 2002
Hintergrund
DIREKTE DEMOKRATIE Ein amerikanischer Publizist hat sich mit der Schweiz
beschäftigt. Das System der direkten Demokratie überzeugt
ihn derart, dass er zum Schluss kommt, die USA müssten es nachahmen.
Ist die Schweizer Demokratie exportierbar?
Die direkte Demokratie ist etwas für kleine Länder wie die
Schweiz, heisst es. Ein amerikanischer Autor ist anderer Meinung:
Auch die USA könnten von ihr profitieren.
Von Markus Somm
Es geschieht selten, dass sich ein amerikanischer Publizist mit der
Schweiz beschäftigt - und wenn, dann entstehen Bücher, die
eher mythologisch denn informativ sind. Der fremde Blick von aussen
zeichnet das Land oft so verschwommen, dass für Eingeborene nichts
Neues zu erkennen ist. Im Herbst erscheint in den USA ein Buch, das
diese Mängel nicht kennt, sondern ein erstaunlich genaues Porträt
der Schweiz wiedergibt: «Direct Democracy in Switzerland»
lautet der Titel, Gregory Fossedal* heisst der Autor. Früher
Journalist beim «Wall Street Journal», leitet er heute
einen Thinktank in Washington, der sich unter anderem zum Ziel gesetzt
hat, in den USA für die direkte Demokratie zu werben. Klar ist
daher, dass sich Fossedal für die Schweiz interessieren muss;
denn kein Land dieser Welt hat ihr politisches System auf nationaler
Ebene so weit gehend demokratisiert wie die Schweiz. Vergleichbares
ist bloss in den USA durchgesetzt worden - aber eben nur in zahlreichen
Einzelstaaten, nie in Washington.
Die guteidgenössische Art
Fossedal ist nach wiederholten Recherchen vor Ort nicht zum Schluss
gekommen ist, dass die direkte Demokratie in der Schweiz eine politische
Verirrung darstellt. Im Gegenteil. Der Autor ist beeindruckt und umso
mehr überzeugt, dass die USA dieses Experiment dringend nachahmen
müssten. Nur so lasse sich die grassierende Unzufriedenheit der
Bürger mit der Politik eindämmen. Anders als der frühere
Schweizer Botschafter in Washington, Alfred Defago, der dem amerikanischen
Forscher sagte, die direkte Demokratie sei nur in der Schweiz praktikabel,
glaubt Fossedal an die Exportierbarkeit dieses politischen Systems.
Trotz dieser ideologischen Voreingenommenheit macht es sich der Autor
nicht zu leicht, sondern bemüht sich, im Einzelnen zu verstehen,
was ihn so begeistert. Und hier wird Fossedals Buch auch für
den schweizerischen Leser eine lohnende Lektüre: Zunächst
im konkreten Sinne. Wie viele amerikanische Publizisten schreibt Fossedal
witzig, flüssig und ohne einschüchternden Ton. Man begleitet
den ausländischen Ethnologen gerne auf dem Weg durch die Schweiz.
Genau und doch mit amüsierter Distanz beschreibt er etwa das
Geschehen im Bundeshaus: Das Gebäude, das der durchschnittliche
Schweizer mit einer Mischung von direktdemokratischem Stolz und doch
schüchterner Ehrfurcht betritt, wirkt auf den Amerikaner eher
wie ein kommunes Stadtparlament. Überrascht stellt Fossedal fest,
dass offenbar keine Sicherheitskontrollen vorgenommen werden müssen
(der Besuch fand vor dem Attentat in Zug statt - inzwischen hat sich
das verändert). Und leicht verwundert erzählt er, wie manche
Parlamentarier statt im Anzug im Pullover in der Wandelhalle stehen.
Solche anekdotischen Schilderungen finden sich verstreut im ganzen
Buch: Glänzend kombiniert Fossedal die Reportage mit der Analyse,
verkettet Statistiken mit Geschichte, historische Rückblicke
mit Prognosen. Offensichtlich führt hinter dem politisierenden
Wissenschaftler der ehemalige Journalist Regie. Auf den ersten Blick
scheint es, als interessiere sich Fossedal inhaltlich fast für
alles, was in der Schweiz zu beobachten ist, tatsächlich geht
es ihm stets um die direkte Demokratie. In verschiedenen Politikfeldern
untersucht er, wie sich dieses rare System auswirkt und vergleicht
dies mit den Erfahrungen anderer Länder, insbesondere den USA.
Selbst der Schweizer gewinnt so ganz neue Einsichten in sein Land.
Zum Beispiel in der Steuerpolitik: Überzeugend und äusserst
gut informiert, erklärt Fossedal seinen amerikanischen Lesern,
warum die Schweiz nach wie vor so tiefe Fiskalquoten aufweist - im
Vergleich sind sie nach wie vor tief, bürgerliche Klagen hin
oder her. Sie sind so mässig, weil der Stimmbürger praktisch
jede Steuererhöhung an der Urne sanktionieren muss. In sämtlichen
anderen Demokratien können die politischen Eliten das untereinander
ausmachen - was tendenziell zu höheren Steuern führt. Zwar
sind das stets umstrittene Entscheide, und alle Lobbyisten des Landes
versammeln sich in solchen Tagen jeweils in Washington, um Druck zu
machen. Doch am Ende sind es die Politiker, die darüber beschliessen,
ob sie dem Staat, von dem sie selbst abhängen, noch mehr Geld
zugestehen oder nicht.
Perverse Wirkungen
In den USA, so die Einschätzung Fossedals, hat diese abschliessende
Entscheidungskompetenz der Politiker perverse Wirkungen: Da die Amerikaner
traditionell (wie die Schweizer) steuermüde sind, versuchen die
Politiker beider Parteien, die Emotionen zu schüren. Je nach
Interessenlage werden die Anliegen der einen Gruppe als überrissen
denunziert oder die Bedürfnisse der andern Branche als unverzichtbar
dargestellt. Die Details interessieren nicht, die Wähler werden
kaum informiert, dafür mit Leidenschaft aufgepumpt: Weil sie
nicht zustimmen oder ablehnen können. Kurz: Statt dem Bürger
eine Steuererhöhung oder -erleichterung zu erklären, wie
dies ein Schweizer Politiker tun muss, will er in der Volksabstimmung
reüssieren, wird in den USA aus strategischen Gründen das
diffuse Unbehagen gegenüber dem Staat angezapft. Zurück
bleibt beim Bürger das Gefühl, betrogen worden zu sein,
so Fossedal.
In der Schweiz dagegen habe er selbst bei einfachen Leuten ein beeindruckendes
Wissen über Steuerfragen feststellen können. Und keiner
habe sich beklagt. Jeder Schweizer glaube zwar, zu viel Steuern zahlen
zu müssen, doch keiner möchte mit einem Deutschen oder einem
Amerikaner tauschen. Fossedal arbeitet sehr sorgfältig heraus,
wie die direkte Demokratie zu Entscheiden führt, die vom Bürger
am Ende viel besser akzeptiert und verstanden werden, als dies in
repräsentativen Demokratien der Fall ist. Ausserdem widerlegt
er eines der hartnäckigsten Vorurteile, das gegen die direkte
Demokratie gehegt wird: Dass die Bürger populistischen Demagogen
nachgeben und unsinnige Entscheide fällen, indem sie aus Geiz
den Staat aushungern. Wenn es sein muss, haben sogar die Schweizer
höheren Steuern zugestimmt - es kostete die Politiker einfach
mehr, die Bürger dazu zu bewegen. Was der Qualität des Beschlusses
keinesfalls schadete, im Gegenteil.
Ein anderes Kampffeld, das von Kritikern der direkten Demokratie oft
als Beispiel herangezogen wird, um zu beweisen, wie gefährlich
diese Staatsform sein könnte, ist die Zuwanderungspolitik. Die
Mehrheit unterdrücke Minderheiten mit dem Stimmzettel. Ganz falsch
ist diese Befürchtung sicher nicht. Die Schweiz mag hier den
Vorteil haben, dass sie kein richtiger Nationalstaat mit einer erdrückenden
Mehrheit ist. Doch auch hier gelingt es Fossedal, einen wichtigen
Effekt der direkten Demokratie zu verdeutlichen. Obwohl in der Schweiz
nämlich in den vergangenen dreissig Jahren mehrere Male über
Initiativen abgestimmt wurde, welche die Zahl der Ausländer begrenzen
wollten, obsiegte am Ende stets die Vernunft - sei sie nun wirtschaftlich
motiviert oder humanitär. Stets lehnte das Volk solche Schritte
ab, sodass die Furcht vor Populisten unbegründet scheint. Vor
allem aber, streicht Fossedal heraus, gab das Initiativrecht den Menschen,
die sich von Einwanderern bedroht fühlten, eine faire Chance.
Im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern kann sich in
der Schweiz niemand über mangelnde Mitsprache beklagen.
Unzumutbare Demokratie
Werden die Bürger und Politiker der USA Fossedals Begeisterung
für die schweizerische Art der Demokratie in absehbarer Zukunft
teilen? Kaum. Zurzeit haben es die Promotoren der direkten Demokratie
eher schwer. Beide grossen Parteien interessieren sich nur mässig
für einen Systemwechsel. Warum sollten die Eliten sich selbst
entmachten? Zudem hat sich gerade in linksliberalen Kreisen in den
vergangenen Jahren grosse Skepsis gegenüber der direkten Demokratie
breit gemacht. Insbesondere in Kalifornien, dem Bundesstaat, der zusammen
mit Oregon dem schweizerischen Modell am nächsten kommt. Der
Golden State kennt sowohl die Volksinitiative als auch das Referendum.
Ursprünglich, kurz vor dem Ersten Weltkrieg von der Linken erkämpft,
hat sich in den 70er-Jahren die Rechte aufgemacht, mit Initiativen
den Staat aus den Angeln zu heben.
So jedenfalls sieht es der amerikanische Journalist Peter Schrag**,
der vor wenigen Jahren ein sehr aufschlussreiches, aber auch erschütterndes
Buch über den Stand der Demokratie in Kalifornien verfasst hat.
Mit der berühmten Proposition 13 setzte sich 1978 die Bewegung
der so genannten Tax Revolt durch - Menschen, die fanden, die Steuerbelastung
habe die Grenze des Erträglichen überschritten. Diese Volksinitiative,
welche die Steuern für Hausbesitzer plafonierte, wurde von einer
grossen Mehrheit der Bürger angenommen. Und sie hatte Folgen:
Zum einen bahnten die Steuerrebellen Ronald Reagan den Weg ins Weisse
Haus. Zum andern, so Schrags Ansicht, entzogen sie dem kalifornischen
Staat auf Dauer wichtige Ressourcen. Den Niedergang der Schulen und
der öffentlichen Infrastruktur schreibt Schrag dieser Entwicklung
zu.
Ist die direkte Demokratie also doch schädlich? Was für
Kalifornien gelten mag, stimmt im Fall der Schweiz sicher nicht -
wie die meisten Schweizer wohl bestätigen würden. Dabei
liegt es aber nicht an der politischen Reife der Schweizer, wie Fossedal
treffend belegt, sondern am System. Die kalifornische Demokratie unterscheidet
sich nämlich in wesentlichen Punkten von der schweizerischen
Variante (vgl. unten). So gesehen, können die Schweizer nur hoffen,
Fossedals Buch werde auch in Kalifornien gelesen. Nicht nur in der
Schweiz.
* Gregory A. Fossedal: Direct Democracy in Switzerland. Transaction
Publishers. New Brunswick und London 2002.
** Peter Schrag: Paradise Lost. California's Experience, America's
Future. University of California Press. Berkeley 1998.
So gefährlich wie Anthrax.